Der legendäre und renommierte Wiener Singverein: Geschichte, Organisation und Projekte …

Er ist einer der ältesten, besten und renommiertesten Chöre der Welt. Allein der einfache Name „Wiener Singverein“ lässt das Herz vieler Musikliebhaber höher schlagen. Sein offizieller Name „Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien” bezeugt seine Verwurzlung in der wichtigen und einflussreichen Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. An die Struktur der 1812 gegründeten Gesellschaft wurde der „Wiener Singverein“ als Laienchor im Jahr 1858 angeschlossen. 2008 konnte er demzufolge auch sein 150 jähriges Bestehen zurückblicken; ein Umstand, der ihn wahrscheinlich weltweit zu einem der ältesten Laienchöre mit chorsinfonischer Ausrichtung macht. In den Konzerten, die meistens im Musikverein oder im Konzerthaus stattfinden, bringt er große chorsinfonische Werke mit den vier wichtigen Wiener Orchestern (Philharmoniker und Symphoniker, ORF-Sinfonieorchester, Tonkünstler-Orchester Niederösterreich) aber auch mit zahlreichen exzellenten Gastorchestern und Dirigenten zur Aufführung. Mit anderen Worten, wenn zum Beispiel , wie im Februar 2013, das Orchestre National du Capitole de Toulouse mit Orfeón Donostiarra nach zwei Konzerten in Toulouse und Paris mit „La Damnation de Faust“ in Wien konzertiert, wird der „Wiener Singverein“ gerufen. In Wien ist es nämlich guter Brauch, dass professionelle Musiker und Laiensänger ohne jedwede Diskriminierung zusammenarbeiten können; nicht nur weil beide historisch der gleichen Struktur entsprungen sind, sondern auch weil dieser Chor längst professionelles Niveau hat.

Seit 1991 wird der „Wiener Singverein“ von Johannes Prinz geleitet. Die etwa 210 Sänger gemischten Alters, von denen einige noch mit Bernstein und Karajan zusammengearbeitet haben, absolvieren im Hauptchor durchschnittlich 40 Konzerte pro Saison. In der Saison 2013/2014 sieht das Programm wie folgt aus: Die Sinfonien Nr. 2, 3 und 8 von Mahler, Brahms-Requiem mit drei unterschiedlichen Dirigenten (davon einmal in der Luxemburger Philharmonie), Neunte Sinfonie von Beethoven mit vier verschiedenen Dirigenten (davon einmal mit dem Gewandhausorchester Leipzig bei den Salzburger Festspielen und einmal mit den Wiener Philharmonikern in Japan), die Requien von Verdi und Britten, das Stabat Mater von Rossini, die Cäcilien-Messe von Gounod (erstmals im Repertoire), König David von Honegger, die Johannespassion von Bach, die Messe Solennelle von Berlioz, Les Noces von Strawinsky und das Requiem für Mignon von Schumann. Am Pult wechseln sich ab: Dudamel, Orizco-Estrada, Chailly, Jurowski, Chung, Thielemann, Prinz, de Billy, Welser-Möst, Fedossejev, Antonini, Blomstedt, Muti, Järvi (Brahms-Requiem mit dem Orchestre de Paris), Meister, Barenboim (für das selten gespielte Requiem von Reger) und Jordan für Daphnis und Chloé, einige Tage später auch in Paris mit dem Chor der Pariser Oper zu hören. Dieses beeindruckende Programm, das seinesgleichen unter professionellen Chören sucht, zeigt sowohl das breite Repertoire als auch die stilistische Vielfalt der eingeladenen Dirigenten, unter denen nicht nur große Meister wie Muti, Barenboim und Chailly sondern auch die junge Generation (Dudamel, Oroszco-Estrada, Jurowski) zu finden ist. Selbst die Musik des Barock ist vertreten, beispielsweise mit der Johannespassion, die im April 2014 beim Osterfestival in Aix-en-Provence unter der Leitung von Giovanni Antonini aufgeführt wird.

Wegen der Vielzahl an Sängern und unterschiedlichen Programmen melden sich die Sänger für jene Programme an, an denen sie teilnehmen wollen und können. Die Probenplanung wird so gestaltet, dass jeder der es wünscht an allen Programmen teilnehmen kann. Es kommt nicht selten vor, dass sich mehr Sänger für ein Projekt mit einem beliebten Dirigenten (Mehta, Jansons, Rattle, Muti, Ozawa) melden als die Bühne des Musikvereins an Platz zur Verfügung stellt, die zu den kleinsten in Europa zählt. In dem Falle wählt Johannes Prinz die Sänger aus. Eine derartige Programmplanung erfordert einen Rhythmus mit eine Probe pro Woche (Montags oder Donnerstags von 18:00 bis 21:00 Uhr) in einem der vier hervorragenden Säle im Untergeschoss. Das ständige Repertoire dieses Chores ist enorm (9. Sinfonie von Beethoven, 2. und 3. Sinfonie von Mahler, Requiem von Verdi und Brahms). Diese Werke können mit nur einer geringen Anzahl an Proben aufgefrischt werden. Ich hatte 2008 die Möglichkeit mit diesem Ensemble Mahlers 2. Sinfonie zu singen, die mit einer Probe, einer Probe mit Dirigent und Klavier und einer Generalprobe am Vormittag des Konzerttags einstudiert wurde. Neben dem Chorleiter wird der Chor von einem Vorsitzenden, einem Verwaltungsrat und einer jährlichen Generalversammlung gelenkt. Den Vorsitz hatte von 2002 bis 2011 Adelheid Hink inne, die Gattin eines der früheren Konzertmeisters der Wiener Philharmoniker.  Bei der ersten Begegnung zwischen dem Chor und dem Dirigenten eines Konzertprogramms richtet der oder die Vorsitzende traditionell einige Willkommensgrüße an den Gast und überreicht den besonders Beliebten gelegentlich auch Geschenke.

Unter der Vielzahl der Dirigenten, die diesen Chor dirigiert haben, taucht zweifellos der Name von Herbert von Karajan am häufigsten auf.  Man muss erwähnen, dass Herbert von Karajan 1950 zum Künstlerischen Direktor auf Lebenszeit der „Gesellschaft der Musikfreunde in Wien“ ernannt wurde. Herbert von Karajan und der Wiener Singverein haben zwischen 1950 und 1988 in mehr als 100 Programmen (mit etwa 250 Konzerten) zusammengearbeitet, dabei vorwiegend in Wien natürlich aber auch in Berlin, Paris, Mailand, Venedig, Salzburg, Luzern, New-York, Tokyo oder Epidauros… Herbert von Karajan dirigierte den Wiener Singverein außerdem in der Matthäuspassion, dem Verdi-Requiem, der Schöpfung von Haydn, dem Deutschen Requiem, der Missa Solemnis und der 9. Sinfonie von Beethoven. Von den noch lebenden Dirigenten haben die folgenden den Wiener Singverein am häufigsten dirigiert (in abnehmender Reihenfolge): Franz Welzer-Möst, Fabio Luisi, Georges Prêtre, Rafael Frühbeck de Burgos, Riccardo Muti, Zubin Mehta, Bertrand de Billy, Mariss Jansons, Pierre Boulez, Simon Rattle, Daniel Barenboïm und Seiji Ozawa. Der aktuelle Chorleiter Johannes Prinz dirigierte den Chor außerdem in etwa 20 Programmen seitdem er diesen 1991 übernahm. Claudio Abbado, Bernard Haitink und Leonard Bernstein haben den Chor nur ein einziges Mal dirigiert. Letzterer führte Mahlers „Sinfonie der Tausend“ 1975 auf, deren Aufnahme als DVD in der Gesamteinspielung aller Mahler Sinfonien dieses außergewöhnlichen Dirigenten vorliegt. In seiner Geschichte wurde der Chor außerdem von Berlioz (dessen „Damnation de Faust“ am 16. Dezember 1866 man nur zu gerne gehört hätte…) Brahms, Mahler, Liszt, Hindemith und Frank Martin dirigiert. In der Geschichte des Chores finden sich zudem die Namen einiger der bedeutendsten Dirigenten wieder: Bruno Walter, Wilhelm Furtwängler, Carlo-Maria Giulini, Joseph Krips, Eujen Jochum, Horst Stein, Wolfgang Sawallisch, Karl Böhm, Otto Klemperer und Erich Kleiber.  In der Vergangenheit konnte man den Chor zudem in Barcelona, Rom, Rotterdam und erst kürzlich in Athen (2006), Paris (2008), Amsterdam und Osaka (2009), München (2010), Moskau (2007,2012) und Tokyo (2011) hören. Außerdem ist der Wiener Singverein regelmäßig zu Gast bei den Salzburger Festspielen zu Ostern und im Sommer.

Wenn dieser Chor zu den besten der Welt zählt, ist das auch der tiefgründigen und langfristigen Arbeit von Johannes Prinz zu verdanken. Ein Mann, der seinen Namen zurecht trägt und alle Qualitäten, die man als Chorleiter besitzen muss, vereint: Kompetenz, Erfahrung, Repertoirekenntnis, Enthusiasmus, Großmut, Charisma und Anspruch, ganz zu schweigen von seinem bezaubernden Bariton. Aber man findet bei diesem Mann auch eine feinsinnige und  tiefsitzende Begeisterung für die Musik, die er in einer selten anzutreffenden aber sehr effizienten Mischung aus Autorität und Fantasie seinen Sängern zu vermitteln weiß. Einer Probe von Johannes Prinz beizuwohnen ist deshalb beeindruckend, weil nichts dem Zufall überlassen ist. Es ist jedes Mal eine Erfahrung, die sowohl erfreulich aber auch lehrreich – im besten Sinne des Wortes – ist.  Mit seiner Mischung aus Humor, Leidenschaft und Anspruch bereitet er den Chor stets bestens vor, bis in die Tiefe eines Werkes. All das um anschließend den Chor dem Gastdirigenten anzuvertrauen: eine Geste der Bescheidenheit und großer Demut. 1958 in Wolfsberg geboren, war er erst Knabensolist in Wien, bevor er seine Ausbildung begann bei Ferdinand Grossmann, seinerzeit Leiter der Wiener Sängerknaben, und bei Erwin Ortner, Leiter des Arnold Schönberg Chores, dessen Assistent er wurde. 1982 gründete er sein erstes Vokalensemble, 1988 wurde er Leiter des Grazer Universitätschores, bevor er von 1995 bis 2007 Leiter des Wiener Kammerchores wurde. Seit 2000 unterrichtet er Chorleitung an der Universität Graz. Er ist zudem häufig als Dirigent zu Gast bei einigen der weltbesten Chören (RIAS Kammerchor, Chor des Bayrischen Rundfunks,…)

Johannes Prinz übernahm die Leitung des Wiener Singvereins 1991. Zum Zeitpunkt von Karajans Tod 1989 war Helmuth Froschauer, sein Vorgänger als Chorleiter, bereits seit über 20 Jahren im Amt. Der vormalige Leiter der Wiener Sängerknaben wurde 1968 auf Bitten Karajans zum Leiter ernannt und lenkte seitdem sowohl den Wiener Singverein als auch den Chor der Wiener Staatsoper. Helmuth Froschauer wurde im Zuge des Generationswechsels entlassen, ebenso wie einige Sänger. Der Chor durchlebte anschließend eine schwierige und ungewisse Zeit vor seinem kontinuierlichen Wiederaufstieg. Fakt ist, dass sich die Ansprüche an die chorische Aufführungspraxis geändert hatten und dass in den 80er Jahren in Wien wie auch außerhalb professionelle Chöre von geringerer Größe auftauchten, die letztlich die künstlerischen Ansprüche steigen ließen. Johannes Prinz, der bei Erwin Ortner studiert hatte, erkannte schnell den Weg, den er mit dem Wiener Singverein einschlagen musste, um im Rennen zu bleiben. Dank seiner Hilfe wurde der Chor nach und nach zu einem Ensemble, das den hohen künstlerischen Ansprüchen der Gastdirigenten in Wien nachkommen konnte und nicht länger nur vom allmächtigen Karajan protegiert wurde. Prinz ermöglichte dem Chor eine stilistische Flexibilität zu gewinnen, die es ihm erlaubte, ohne Schwierigkeiten vom klassischen Beethoven unter Christian Thielemann zum schlanken Händel unter Nikolaus Harnoncourt oder zur englischen Chormusik von Elgar unter Simon Rattle zu wechseln.

Seit etwa 10 Jahren schlägt sich diese Arbeit auch in einer neuen Aufnahmeaktivität nieder, die bereits mit Preisen und Auszeichnungen auf höchstem Niveau besticht (3. Sinfonie von Szymanowski und Mahler unter Pierre Boulez, Requiem von Dvorak unter Jansons,…). Die wichtigsten Dirigenten fragen den Chor an, selbst wenn dafür Reisen nach Moskau oder Amsterdam notwendig sind – Städte, die ebenfalls über gute Chöre verfügen… Man mag sich auch in Erinnerung rufen, dass Sir Georg Solti den Chor 1975 für Mahler Sinfonie der Tausend nach Paris kommen ließ und Michel Plasson für ein Verdi Requiem 1986 in Bercy. Unlängst wiederholten Myung Whun Chung und Christoph Eschenbach das Werk 2005 in der Basilika von St. Denis und 2008 in Bercy.  Für die französische Uraufführung von Franz Schmidts Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ reiste der Chor nach Montpellier. Dieses wunderbare Oratorium, das die Apokalypse behandelt, wurde seit seiner Uraufführung einige Monate vor dem Anschluss 1938 in Wien etwa 90 Mal aufgeführt. Der Wiener Singverein beteiligte sich an mehreren Aufnahmen dieses Werkes, unter anderem mit Kristjan Järvi, die von der Presse weit über Österreich hinaus gelobt wurde.  Unter den Hauptwerken des Chores befinden sich, in dieser Reihenfolge: 9. Sinfonie von Beethoven, Brahms-Requiem, Bruckner Te Deum, Verdi-Requiem, Matthäus-Passion, Missa Solemnis, Haydns Schöpfung, Mahlers Sinfonien (dessen 8. von diesem Chor 1912 unter der Leitung des Komponisten in München urraufgeführt und seitdem über 30 mal aufgeführt wurde) und alle Chorwerke von Berlioz, die sich ebenfalls im Repertoire befinden. Außerdem finden sich einige französische Raritäten, darunter Werke von Honegger („Jeanne d’Arc“ 2012 unter Betrand de Billy und „König David“ 2012 unter Fedosseiev auf einer Russlandtournee) aber auch der Psalm 130 von Lili Boulanger 2012, „Le Martyre de Saint Sebastien“ von Debussy unter Georges Prêtre, Bertrand de Billy und Alain Altinoglu sowie die „Trois petites liturgies Divines“ von Messiaen 2012 unter Ingo Metzmacher. Andere Raritäten, die der Wiener Singverein zu Gehör brachte: „L’Altantide“ von de Falla unter Frühbeck de Burgos 1992; das Requiem von Stravinsky 2005 (Wiederholung dieses Jahr); „Golgatha“ von Frank Martin, absolute Seltenheit in Frankreich und kürzlich vier mal in Wien aufgeführt; ebenso „In terra pax“ 2008 unter Fabio Luisi; „Le Singe de Gerontius“ von Elgar 2012 unter Rattle; und die „Chichester Psalms“ von Bernstein unter Wayne Marshall 2012. Als Anekdote sei außerdem erwähnt, dass Zubin Mehta und Claudio Abbado, die beide Ende der 50er Jahre Studenten in der berühmten Dirigierklasse von Hans Swarowsky waren, die Chance hatten in diesem Ensemble das Mozart Requiem unter Bruno Walter mitzusingen, und Zubin Mehta außerdem das Verdi Requiem unter Erich Kleiber…

Die Liste der Uraufführungwerke des Wiener Singvereins ist beeindruckend: Brahms-Requiem (1867), Die G-Dur-Messe und das Te Deum von Bruckner (1886), die 8. Sinfonie von Mahler (1910), das Frühlingsbegräbnis von Zemlinksy (1900) und Das Buch der sieben Siegel von Schmidt (1938).

Zu guter Letzt: Johannes Prinz fördert junge Sänger, was wenig erstaunlich ist, wenn man sich seinen Werdegang betrachtet. Seit mehreren Jahren lädt er daher junge Sänger ein, je nach Wunsch und Verfügbarkeit an einem oder mehreren Programmen teilzunehmen. Ohne Zweifel können die jungen Amateursänger durch die Aufführung der „Messe Solennelle“ von Berlioz mit den Wiener Philharmonikern unter Muti oder des „War Requiems“ mit dem London Phlharmonic Orchestra unter Juroswki im Musikverein eine Berufung erleben. In jedem Falle ist es zweifellos ein gelungenes und motivierendes Beispiel! Johannes Prinz bringt das Credo des Wiener Sinvereins auf den Punkt: „Singen ist nicht unser Job, sondern unsere Leidenschaft“.

Gilles Lesur

Für weitere Informationen: www.singverein.at

Sie können ebenfalls das fabelhafte und wunderbar geschriebene Buch von Joachim Reiber „Menschen Stimmen Götterfunken“ erwerben, das Ende 2007 im „Verlag“ anlässlich des 150. Jubiläums des Chores erschienen ist.

Vifs remerciements à Manuel Bust et Christopher Hyde pour la traduction.